Erschöpfung macht Schmerz – Warum?

Erschöpfung ist eine anerkannte bedeutende Krankheitsursache. Sie ist sehr häufig und wird von den Betroffenen oft lange ignoriert.

Rein physikalisch besteht beim gesunden Menschen ein Gleichgewicht zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch. Für den regulären Ablauf ist in der Natur selbstverständlich ein Speicher mit Reserven für harte Zeiten vorgesehen. Nahrung und körperlicher Anstrengung oder das Verhältnis von Verbrauch und Zufuhr mit den Reserven für harte Zeiten stellen ein bewährtes Prinzip dar. Das gilt auch für alle möglichen anderen Parameter. Ob Temperatur-, Wasser- oder Elektrolythaushalt; ob Zell-, Gewebe-, oder Organhaushalt, überall erkennt man dieses sinnvolle Prinzip.
Auch das Nervenkostüm unterliegt den physikalischen Regeln.
Das Nervensystem hat aber, wissenschaftlich gesehen, leider noch viele Unbekannte. Es ist zwar bereits eine ganze Menge erforscht, Theorien gibt es viele. Doch wie die unglaubliche Anzahl von Nervenzellen wirklich genau arbeitet, weiß niemand.

Wie die Stromleiter im Computer ist die Gesamtheit der Nerven eines Menschen miteinander verknüpft. An den Schaltstellen zwischen den Nerven gibt es wie im PC zwei Möglichkeiten für den Stromfluss (Nerven funktionieren mit schwachen elektrischen Strömen). Entweder wird der Strom gemindert oder verstärkt (1 oder 0). Man spricht beim Nerv von Hemmung und Bahnung.
Massenhaft Nerven, die sich teils meterlang durch den Körper ziehen, sind an unzähligen Kontakten miteinander verschaltet. Im Gegensatz zu den Schaltkreisen im Computer sind die Nervenzellen aber unübersichtlich wie Spaghetti in einem Topf gelagert. Die Anzahl (Unzahl) und der Charakter der einzelnen Schaltstellen (1 oder 0) sind so gut wie unbekannt.
Die Funktionen dieses Irrgartens der Nerven im Körper sind äußerlich wiederum auch für Laien gut erkennbar. Gute Nerven machen gutes Befinden, schnelle Reaktionen, gute Körperfunktionen.
Anders als ein Computer kann das Nervensystem stellenweise oder total umgepolt werden. Alle Schaltstellen reagieren zusätzlich irgendwie anders, wenn man Neurotransmitter (Adrenalin, Dopamin und deren Schwestern) dazugießt. Die Schaltstellen machen also plötzlich das Gegenteil oder bleiben wie sie sind und das auch noch scheinbar ganz unregelmäßig. Über Adrenalin wird der Körper z. B. auf Hochleistung eingestellt.

Das Nervenkostüm sorgt auch für den Schmerz. Die Schmerzzentrale (der Thalamus) sitzt in der Mitte des Gehirnes.
Der Schmerz ist eine Warnung an das Hirn und an andere Organe. Er soll meist Schaden melden und die Heilung begleiten. Hierdurch werden Schonmaßnahmen begünstigt. Was weh tut, wird nicht richtig bewegt und heilt besser. Der Finger in der Flamme wird nach nur Bruchteilen von einer Sekunde zurückgezogen und kann dadurch nicht verbrennen.
Und es gibt Schmerzen, die nicht schmerzen. Sie sind unter der Merkschwelle. Die Pain-Gate Theorie sagt u. a. genau das. Viele Schmerzimpulse werden auf ihrem Weg zum Thalamus (im Gehirn die Sammelstelle für den Schmerz) so gehemmt, dass der Mensch keine Notiz davon nimmt. Das ist sinnvoll. Denn unterschwellig und ohne Krankheitszeichen regeneriert der Körper kleinere Schäden quasi im Vorübergehen. Und das geschieht in allen Körperregionen jedenTag. Immer läuft ein kleiner entzündlicher Prozess ab, zu dem der Schmerz definitionsgemäß gehört.
Stauen sich Reparaturen, dauern sie zu lange oder sind die Schäden zu groß, wird der Mensch und sein Bewusstsein darauf aufmerksam. Es hat sich herausgestellt, dass nicht nur das Unter- sondern auch das Be-wußtsein durchaus effektiv auf Schmerzen reagieren. Haben wir Schmerzen, kümmern wir uns darum. Die Effektivität erhöht sich. Frieren wir, ziehen wir uns an oder decken uns zu, anstatt nur abzuwarten, bis die Haare sich aufstellen und die Poren sich schließen. Spüren wir Schmerz, salben oder verbinden wir uns.

Erschöpfung verzögert Heilung und kann zu Nervenfunktionsstörungen führen. Die Schmerzen werden weniger gut verarbeitet. Der Schmerzfilter arbeitet nicht richtig.
Der gesunde Schlaf bietet viel zum Heilen. Zeit und Ruhe sind jedenfalls vorhanden. Das Nervenkostüm läuft auf standby. Nervenzellen regenerieren sich und füllen die Lager auf. Der Schmerzfilter tankt Strom. Hat man den Schmerz nachts, kann der Schmerz das Auftanken wichtiger Funktionen behindern.

Schmerzbedingte Schlafstörungen stellen also eine ernste Sackgasse einer Erkrankung dar.
Da wir also wegen ihrer feinen Bauweise wenig über die Nervenstrukturen wissen, integrieren wir einfach alle Funktionen der Nerven und stellen uns deren Integral als Schmerzschwelle vor.
Es kommt vor, dass die Schmerzschwelle höher oder tiefer liegt. Wir können also die teils unbekannten Funktionen der Schmerzverarbeitung zusammennehmen und uns vorstellen, dass die sich ergebende Linie die Schmerzschwelle ist.

Ist der Mensch satt, erholt und kräftig, ist die Schwelle oben und wenn er erschöpft, matt und energielos ist, liegt sie tief. Eine tiefe Schwelle bedeutet wenig und eine hohe viel Schmerzhemmung. Sind wir gesund und ausgeruht haben wir wenig und keinen Schmerz. Sind wir erschöpft, tun selbst ganz normale und relativ gesunde Körperteile weh.

Es kann also sein, dass ein lange schmerzfreier Bandscheibenvorfall der Lendenwirbelsäule bei einem plötzlichen Schicksalsschlag, der viel Energie braucht und die Energiereserven des Menschen aufzehrt, von einem Moment zum anderen stärkste Schmerzzustände verursacht. Das Beispiel der plötzlichen Schocksituation ist glücklicherweise selten. Häufiger ist eine chronische Erschöpfung die Ursache für schmerzhafte Bandscheibenschäden.

Der gesunde Körper kann also mit dem Schmerzfilter alltäglich Schäden in Schach halten und reparieren, ohne krank zu werden (Kompensation von Stukturschäden). Andererseits brechen Schmerzen aus, obwohl die Körperstrukturen unverändert sind. Die Dekompensation u. a. des Schmerzfilters ist ein häufiger Grund. Erschöpfung trägt die Schuld.

Durch langsames Einschleichen ist die Ursache für die Erschöpfung getarnt – Demaskieren Sie die Ursachen

Das Nervenkostüm des Frosches beeindruckt junge Oberklasseköche manchmal. Der Koch will einen Frosch kochen und wirft ihn in den Topf mit siedendem Wasser. Der Frosch registriert bereits die Nähe der Todeshitze blitzschnell und springt – kostet es was es wolle – aus dem Topf. Der routinierte Spitzenkoch setzt den Frosch in handwarmes Wasser und erhitzt dann das Wasser. Der Frosch bemerkt die allmähliche Erhitzung zu spät und ohne jede Bewegung. Nicht so drastisch aber so ähnlich wirken allmähliche schädliche Einflüsse z. B. soziale Einflüsse auf Menschen.
Schädliche Überlastung in Beruf und Privatleben schleichen sich langsam aber stetig ein und werden nicht bemerkt. In der Hochleistungszeit zwischen den späten zwanziger und den vierziger Lebensjahren (soziale Achterbahn) bieten wir uns in maximaler Hochleistungsmanier im Alltag an und werden gleichzeitig auch so von der Gesellschaft „abgeschöpft“. Meist geschieht das ohne bösen Willen und ist ganz normal.
Oft kommen wir an unsere Grenzen und merken es nicht mal. An der Reserveenergie steht ja nicht auf einem kleinen Zettel geschrieben: „Ich bin schon aus der Reserve“. In der Nacht schlafen wir intensiver und erholsamer als sonst und kommen gar nicht auf die Idee, bewusst gegen Stress und Überlastung intelligent vorzugehen. Das geht lange gut.

Das kann aber bei manchen Menschen zu Krankheiten führen.
Sportler trainieren ihre Leistungskraft zusätzlich auf und können in der Regel auf riesige Reserven zurückgreifen. Manchmal bekommt der Sportler Schmerzen nach dem Sport und denkt, er müsse mehr trainieren. Beim z. B. Laufen tut’s ja noch nicht weh. Noch nicht.

Eine Frau, die ihren Beruf und ihre Familie gerne und sehr gut seit Jahren super unter einen Hut gebracht hat, bekommt zu der schon lange bekannten Rücken- und Nackenverspannung teils stärkste Schmerzzustände des ganzen Rumpfes, der Ellenbogen und der Füße. Sie läuft nach dem aufstehen gebückt wie eine Greisin.

Sie stockt erstmal ihr Fitnessprogramm auf und lässt sich Massagen und Gymnastik vom Arzt verschreiben. Sie zweifelt zwar etwas an ihren Maßnahmen aber sie macht weiter und mehr.
Später wird der Schmerz auch nachts kommen und während die Betroffenen bisher abends todmüde in das Bett sanken und tief schliefen, treten jetzt nachts störende Schmerzen auf und die einzige Rettung – der Nachtschlaf – fällt aus.

Es erwächst die Abseitsfalle der Medizin. Es treten durch Schmerz Schlafstörung und großer Schlafbedarf zugleich auf. Der Schmerz bedingt das eine und ist Folge des anderen. Man spricht zurecht von einem Teufelskreis.
Dieser Teufelskreis führt unter unseren eigentlich sehr guten Umständen der sogenannten zivilisierten Welt in sehr häufigen Fällen zu einer brisanten Situation der Gesundheit.
Schmerz ist ein Signal für Ruhe. Wer Schmerz nach chronischer Überlastung nicht als Ruhesignal wahrnimmt und wer bei dem Signal nicht Gegenmaßnahmen mit höchster Dringlichkeit für sich ergreift, kann schließlich seelisch erheblich krank werden. Dann muss man von einer sehr gefährlichen Krankheit reden und diese ist häufig mit schweren Folgeschäden (Angstzustände, Schizophrenie, Depression…) verbunden.

Aber warum?

In der ärztlichen Praxis gibt es einen klassischen Patienten. Es ist die mütterliche Frau in der Mitte des Lebens, mit oder auch ohne Kinder und mit erfüllendem und anspruchsvollem Beruf. Die Kinder müssten schon erwachsen sein bzw. sind bereits groß.

Ebensogroß ist das Engagement der Frau im beruflichen und außerfamiliären sozialen Sektor. Doch auch der Ehemann wird jeden Tag von der Patientin gehegt und umsorgt. Genussmittel werden strickt abgelehnt. Ernährung, Elektrolyt- und Wasserhaushalt sind tip top. Sport wird regelmäßig und intelligent betrieben.

Der Arzt untersucht die Patientin, die sich keineswegs wegen einer Krise sondern wegen Schmerzen zum Beispiel im Nacken bei ihm vorstellt. Er stellt einen überdurchschnittlich guten Trainingszustand, sehr gute Muskulatur und Körperfunktionen fest. Nur auf den zweiten, dritten Blick entdeckt man Zeichen von Müdigkeit im Gesicht der Frau. Der Körper zeigt Schmerzen am Rumpf, Schultern, Hüften, Ellenbogen, Kniegelenken, Füßen und weiteren Regionen. Die Schmerzen hat die Patientin bei Bewegung, Belastung und in Ruhe, auch nachts. Der Schlaf wird von der Betroffenen als schlecht bezeichnet.
Typischerweise war die Frau von Pontius zu Pilatus gelaufen, um irgendwie Hilfe zu bekommen. Keiner weiß was mit ihr los ist und sie war früher sehr fit und munter und hatte nie Grenzen in der Leistungsfähigkeit. Sie hasst sich etwas dafür, dass ihr irgendeine unbekannte Krankheit fesseln anlegt. Seit langem hat sie sich beim Sporttreiben eigentlich nicht wie früher mit sich selber beschäftigt, sondern macht ihre Workouts absolut nur, um mehr Power aus sich rauszuquetschen.

Sie kümmert sich nur noch scheinbar um sich und befasst sich eventuell mit allem Möglichen und eigentlich nur, um von sich abzulenken. Sie will nicht alt werden und will es allen beweisen, sie guckt sich nicht gerne im Spiegel an und hasst Speck und Haut und Dellen und wünscht sich Straffheit zurück. Dabei sehen die Patientinnen meist überdurchschnittlich gut aus und könnten und müssten doch zufrieden mit sich sein.

Es ist eine paradoxe Situation, die von Energiemangel und Energieverschwendung gekennzeichnet ist. Einerseits kann die Betroffene nicht mehr Meff sagen, andererseits leistet sie sich Training, Unzufriedenheit, Inakzeptanz der schlechten Verfassung, Despektierlichkeiten sich selber gegenüber, Selbstvorwürfe. Sie hhat auch Belastungsparameter von sich im Kopf, die früher sicher stimmten aber aktuell einfach falsch sind. Die Belastbarkeit wurde mit der Zeit immer etwas kleiner. Das ist ja normal.

Typisch ist: sich nicht mehr richtig einschätzen zu können, sich dauernd zu überschätzen und sich nicht recht zu schätzen.

Lob kommt später zur Frau als zum Mann. Mädchen haben von klein auf ein Manko in der Männerwelt. Sie lernen es früh, sich mit höchster Leistungsbereitschaft die Welt zu erobern. Natürlich ist das alles nicht so einfach. Auch Männer scheitern in der Mitte des Lebens an Leistungsproblemen und sicher gehören ganze Listen klassischer und moderner Gesellschaftsfaktoren dazu.

Aber die Erschöpfungskrankheiten mit stärksten und schlecht behandelbaren chronischen Schmerzzuständen bei sonst eigentlich höchst gesunden Menschen in der Mitte des Lebens treffen vor allem die Frau.

Lernen, sich für sich Zeit zu nehmen, Ergebnisse immer wieder infrage stellen

Der Leiter der erfolgreichen Behandlung ist immer die Patientin selbst. Sie muss begreifen, dass niemand sie retten kann. Unterstützung kann man bekommen, retten muss sie sich selbst. Schnell!

Der erste Schritt ist, die Ursache zu erkennen und zu stoppen. Der Arzt, die Therapeuten, die Zen-Meister oder die Yogakursleiter können allenfalls lindern, beraten und unterstützen. Die Patientin braucht Ruhe. Die Rastlosigkeit sollte ergründet werden. Dann aber gleich mit der Ruhe beginnen! Meist flechten die Frauen in ihren Alltag sofort strikte Ruhephasen ein und verzichten auf diverse Belastungen, alle überflüssigen Therapien können abgesagt werden, alle Hauhaltsarbeiten können von Helfern gemacht werden, schwere Konflikte müssen konsequent behoben werden.

Die berufliche Arbeit kann oft weitergehen aber auch da muss Übertätigkeit abgeschafft werden. Kraftzehrende Arbeit, Arbeit die man eigentlich nicht gerne macht oder gar hasst und Übermaß an Arbeit sollten ohne die Scheuklappen identifiziert und schnell abgebaut werden. Die Patientin braucht allen Strom, um zunächst notdürftig und dann eine handfeste Akzeptanz für die eigene Schwäche entstehen zu lassen. Zufriedenheit mit sich selbst auch in leistungsschwachen Zeiten muss wieder möglich werden.
Erst dann kann langsam wieder an halbwegs normale Umstände gedacht werden.
Diese Patientinnen brauchen oft nach der Akutphase keine oder nur wenige Schmerzmittel. Wenn die Situation als Krise anerkannt und konsequent umgekrempelt wird und die Betroffene sich quasi aktuell mit sich beschäftigt und sich wieder mit sich und den aktuellen Leistungskennnziffern vertraut macht und damit identifiziert, kann sie wieder besser mit sich selber umgehen. Dann kommt es zügig zur Schmerzlinderung, die Nächte werden wieder erholsam und ein Sportlerleben kann ganz langsam wieder weitergehen und sanft gesteigert werden. Mit viel Zeit. Die Betroffenen mögen sich selber immer mehr und können sich selber Unzulänglichkeiten besser verzeihen. Nach einer Phase mit sich selbst, öffnen sie sich den anderen viel besser und werden natürlich auch selber wieder viel mehr gemocht.

Dreimal Schätzen: Sich selber besser einschätzen, sich seltener überschätzen und sich wieder mehr schätzen mit Haut und Haar von heute.

 

Dieser Beitrag ist von Dr. Michael Ritzow im Februar 2015 als Antwort auf die schriftliche Anfrage einer Patientin erstellt worden, wie der Zusammenhang von Schmerz und Erschöpfung sei.

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